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Perle 2 von 10: Lettland - Samanta Tina, „Still Breathing“

Der politische Umschwung im Osten und der Zerfall der Sowjetunion brachte viele eigenständige Länder auf die Landkarte und auf die Teilnehmerlisten des ESC. Lettland ist eines davon und debütierte 2000 beim ESC in Stockholm. Ging gut los, 3. Platz und zwei Jahre später siegte man sogar, was man aber getrost der Punkteschieberei des Ostens zuschreiben konnte und was letztlich zur Wiedereinführung der Jurys führte (die seitdem 50 Prozent der Wertung ausmachen), um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Und so gehörte Lettland immer zu den Ländern, während derer Auftritte ich mir eine Toilettenpause gönnte. Peinlich war's fast nie, aber eben sterbenslangweilig. Bis auf 2015, als die Sängerin Aminata mit einer bemerkenswerten Dubstep-Nummer zum ESC nach Wien reiste.

 

Und eben diese Aminata ist auch, zusammen mit der Sängerin, die Komponistin und Texterin des diesjährigen lettischen Beitrags. Den Gesang aber überlässt sie der 30-jährigen Samanta Tina. Die ist vom Glück nicht verfolgt, denn seit acht Jahren nahm sie sieglos am lettischen (und zwei Mal am litauischen) Vorentscheid teil. Und nun gewinnt sie endlich und was ist? Der ESC fällt ins coronaviren-verseuchte Wasser. Ihre ersten musikalischen Schritte machte Samanta (die natürlich nicht Tina mit Nachnamen heißt, sondern Polakova, aber „Samanta Polakova“ klang dem Management wohl zu sehr nach gedopter russischer Kugelstoßerin) bei „The Voice of Lituania“, konnte aber die auch dort stets total authentische Jury nicht überzeugen.

 

Den lettischen Vorentscheid aber gewannen Samanta und Ihre Damen vom örtlichen Synchron-Schwimmverein im März 2020 mit „Still Breathing“. Der Text bewegt sich auf einem künstlerischem Niveau, dem ich als einfacher Lokführer intellektuell nicht gewachsen bin: Alles ist irgendwie kacke, aber sie atmet noch. Klügere Menschen interpretieren die Nummer als ein Lied über starke Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Und seien wir ehrlich: Das ist Musik, die man liebt oder hasst und die nicht den ESC gewinnen würde. Ich liebe sie nicht, ich respektiere sie. Aber ich liebe es, dass die lettischen Televoter den Mut hatten, eine solche polarisierende, alles andere als massentaugliche Nummer nach Rotterdam schicken zu wollen. Denn es ist genau diese Musik, die der ESC braucht, um nie wieder als „Schlager-Grand-Prix“ diffamiert zu werden, sondern um klarzustellen, dass hier die Musik spielt. Und darum ist es schade um diese Perle.

 

Für Lettland: Samanta Tina mit „Still Breathing“!

Das lettische Fernsehen LTV hat noch nicht entschieden, ob Samanta Tina mit einem neuen Lied im kommenden Jahr wieder antreten darf oder ob es einen neuen Vorentscheid geben wird.