Russland in Verbindung mit dem
ESC erhöht normalerweise meinen Puls in äußerst ungesunde Höhen, denn seit Putin sein Reich zarenhaft regiert, bestimmt vor allem eines die russischen Beiträge: Verlogenheit. Mal sang eine junge
Dame davon, wie zauberhaft es wäre, wenn wir alle eins wären, einen Glauben hätten (Putin?), eine Liebe (Putin?), wenn wir alle Waffen zerstören könnten (außer Putins?) (Dina Garipova, „What
If“). Ein anderes Mal trat ein singendes weißes Wunder auf, das philosophierte, wie zauberhaft es wäre, wenn wir alle eins wären, einen Glauben hätten (Putin!), eine Liebe (Putin!) und so weiter
(Polina Gagarina, „A Million Voices“) und theatralisch am Ende des Liedes in Tränen ausbrach. So rührend (in meinem Enddarm)!. Zauberhafte Zwillinge traten auf, Kuchen backende Omas und mehrfach
bot man einen russischen Superstar auf, gegen dessen Aufführungen die Bayreuther Festspiele wie Laientheater wirkten. Zu meinem Entsetzen gewann Russland sogar einmal. Ein sichtlich zugekokster
Mann eunuchte sich durch den schmierigen Text, dazu drehte ein Eiskunstläufer Pirouetten auf 0,5 qm Kunsteis und eine echte Stradivari wurde „gespielt“ (Musik ist beim ESC immer Playback), denn
es muss ja geklotzt werden, man ist ja Russe (Dima Bilan, „Believe“ (in Putin?). Und wenn dann die weltweit zahlreich gestreute russissche Diaspora kräftig für die Heimat votet und Russland
nahezu immer um den unverdienten Sieg mitspielt, drehe ich Jahr für Jahr durch und denke mir: Bitte, bitte nicht!
Ich schwöre, dass bei mir kein Koks im Spiel ist, wenn ich in diesem Jahr den russischen Beitrag zu meinen Top-10-Perlen zähle. Denn vermutlich müssen Putin und die Zensoren beim russischen
Staatsfernsehen Pervyi Kanal (Первый
канал, Erstes Programm) zugekokst gewesen sein, um den diesjährigen (und dank der Corona-Pandemie verhinderten) Beitrag zum ESC intern zu nominieren!
Little Big heißt die Gruppe, die eigentlich nach Rotterdam hätte reisen sollen und es gibt nicht wenige, die darin eine Anspielung auf den nicht gerade großgewachsenen russischen Präsidenten
sehen. Medien bezeichnen deren Musikstil als Punk-Pop-Rave; ich würde ihn eher als genial, gaga, dadaistisch und skurril beschreiben. Die vierköpfige Truppe stammt aus St. Petersburg und wurde
2013 gegründet. Ihre Texte ergeben manchmal sehr viel Sinn und manchmal keinen, aber ihre Videos sind immer obskure Kunstwerke, die unfassbare Zugriffszahlen erreichen, auch mal 400.000.000. Und
gerne greifen sie auch russische Klischees in ihren Videos auf, hier zum Beispiel: https://youtu.be/SsFI40bXROs. Oder ihr Lied ist völlig sinnbefreit, aber das Video genial: https://youtu.be/ADlGkXAz1D0
Für den ESC war genau so eine sinnfreie Nummer vorgesehen, politisch zwar harmlos, aber dennoch äußerst amüsant. Genau die richtige Mischung, um als ESC-Klassiker in die Geschichte einzugehen,
ohne als Lachnummer den Contest lächerlich zu machen. Putin muss auf Klo gewesen sein, als das russische TV diese Band nominierte. Die verkopften Jurys hätten wenig dafür übrig gehabt, aber beim
Publikums-Voting wäre das weit vorne gelandet und genau solche Nummern braucht der ESC! Und ich bin mit Russland in diesem Jahr im Reinen.
Für Russland: Little Big mit „Uno“!
Der Sender Первый канал hat bislang nicht verlauten lassen, ob im kommenden Jahr ein anderer Künstler für Russland antreten oder ob Little Big eine zweite Chance bekommen wird.